Die Kunst des Obertonsingens
Ein Einführungskurs

Alle hier beschriebenen Übungen werden auch auf der DVD "Schimmelpfengs Obertonschule"
ausführlich in Film und Ton präsentiert.

      In einer Zeit, in der es als Fortschritt gilt, immer mehr und komplexere Informationen auf immer kleiner werdendem Raum immer schneller von A nach B zu transportieren, muten die Obertonklänge in ihrer Langsamkeit wie Zeugen aus längst vergangenen Zeiten an. Klänge wie aus einer anderen Welt – Entschleunigung, Weite, Getragensein. Bei meiner ersten Begegnung mit der Welt der Obertöne in einem Konzert hatte ich das Gefühl: „Diese Klänge haben Zeit für mich und hören mir zu. Ich bin ganz unmittelbar gemeint. Nichts gilt es zu verstehen – einfach nur Sein und Lauschen.“  Kontemplation, Kommunikation, Kommunion.

      Obertöne – die noch eingefalteten Blätter einer Knospe. Das Ziel unseres Singens ist, die verborgene Vielfalt mit den Ohren zu erahnen, mit der Stimme zu erwecken und die Blume schließlich in ihrer ganzen Schönheit klanglich zu entfalten. Eine klingende Jakobsleiter, auf der wir allmählich von der Erde zum Himmel, vom Materiellen ins Geistige aufsteigen und beide Ebenen in uns miteinander verbinden. Obertöne bedeuten für den Klang das, was die Farben des Regenbogens für das Licht darstellen: immer in ihm enthalten und nur unter ganz bestimmten Bedingungen wahrzunehmen. Der Regenbogen fügt dem Sonnenlicht keine neuen Farben hinzu, er erfindet sie nicht, sondern zeigt uns die Innenwelt des Lichtes. Dazu braucht es ganz bestimmte Wetterbedingungen aus einem besonderen Zusammenspiel von Regentropfen und Sonnenstrahlen. Die Kunst des Obertonsingens besteht darin, in unserem Mundraum ebenfalls bestimmte Bedingungen zu schaffen, damit sich einzelne Obertöne aus dem Grundton herauslösen können. Dieser Grundton ist die Summe und das klingende Zusammenspiel einer Vielzahl von Ober- oder auch Naturtönen. So werden wir beim Singen sozusagen zu einem Regenbogen des Klanges. Dieser Einführungskurs soll uns einige Wege dorthin öffnen.


Die fünf Grundprinzipien des Obertonsingens


1. Vokale sind unsere Klangbausteine.

 Konsonanten dienen dazu, Vokale zu unterbrechen, abzuschließen oder anzustoßen, sind aber selbst nicht Klangfarbenträger. Es gibt auch Zwischenformen, so genannte Klinger, die Vokale miteinander verknüpfen, weich beginnen oder abschließen lassen. Klinger sind das „ m “, das „ n “, das „ ng “ oder das  „l “. Diese Klinger werden später noch eine Rolle spielen. Für das Obertonsingen brauchen wir vor allem Vokale.


2. Wir verschmelzen Vokale miteinander.

 Wie bei einem Aquarell die Farben, so sollen bei unseren Klanggemälden Vokale ineinander verlaufen. Bei dem Wort „ Oase “ bspw.  trennen wir das „ o “ sehr klar vom „ a “. Das wäre für das Obertonsingen nicht günstig. Stellen wir uns eine Bewegung im Tai Chi vor, so haben wir das Tempo und die Achtsamkeit, die wir auch für unseren Verschmelzungsgesang brauchen.


3. Das Sprechtempo wird entschleunigt.

Langsamkeit ist wichtig. Wenn Sie diesen Text so schnell sprechen würden, wie Sie ihn gerade lesen, wäre das für Obertonverhältnisse rasend schnell. Stellen Sie sich vor, wie langsam Sie gelesen haben, als Sie das Lesen lernten. Das wäre ein gutes Tempo.  Wir wollen ja auch keinen Text sprechen oder uns inhaltlich verständlich machen, sondern die Feinheiten der Klangveränderungen erforschen. Dem geben wir Zeit.


4. Wir vollziehen mit der Zunge im Mundraum feinste Veränderungen.

Unsere normale Sprache ist nicht nur zu schnell, sondern auch zu grob für das Obertonsingen. Der Unterschied ist ungefähr der eines Hufschmieds zu einem Goldschmied oder einer Goldschmiedin. Wir üben, die Einheiten der Bewegungen, mit denen wir unseren Mundraum formen und mit der unsere Zunge im Mundraum hin und herwandert, immer kleiner werden zu lassen. So gewinnen wir Achtsamkeit für immer feinere Klangnuancen.


 
5. Obertöne lieben die Wandlung.

Obertöne entstehen bei Veränderungen des Mundraumes, der zu unserem Klangformer wird. Unser Interesse gilt den Klangveränderungen, die bei unseren zeitlupenartigen Mundbewegungen entstehen. Es ist wie der Unterschied von einer Urlaubsreise zu einem Pilgerweg. Eine Urlaubsreise beginnt dann, wenn ich am Zielort angekommen bin. Beim Pilgern ist das „Auf-dem-Weg-Sein“ das Ziel und meist dann beendet, wenn ich am Ziel angekommen bin. Obertonsingen ist so etwas wie eine Pilgerreise des Klanges.

Grundlegende Übungen

" O - ō - a "

Wir singen ein „o“ mit der Klangfarbe, die wir bei dem Wort „Brot“ finden, wandeln es dann über das „o“ wie bei „Wort“ und lassen es dann in ein französisches „o“ wie bei „fond“ übergehen, bevor zu einem französischen „fin“ wird. Am Ende dieser Vokalfolge steht dann ein „a“ wie bei „Nase“. Unser Klang gewinnt immer mehr Nasalität, wir spüren feinste Klangveränderungen und erfahren, dass die Obertöne zum „a“ auf- und zum „o“ wieder herabsteigen. Wir halten fest: ein hellerer Vokal bildet sich aus höheren Obertönen, ein dunklerer Vokal aus tieferen Obertönen.


 Das französische " o "


Wir beginnen mit dem „o“ des französischen "fond“ und bewegen die Zunge, während wir Mundstellung beibehalten, langsam in unserem Mundraum hin und her. Die Lippen sollen sich dabei nicht verändern. Wir spüren, dass sich der Klang verändert und hören vereinzelte Obertonspuren. Wir erfahren, dass wir auf diese Weise eine Art „ i “ bilden können. Dies ist dann der Fall, wenn die Zungenränder die oberen Backenzähne berühren und der Resonanzraum zwischen Zunge und Gaumen kleiner geworden ist. Auch diese „ i “ können wir klanglich differenzieren und es abdunkeln oder strahlender erklingen lassen.


 " n - o - i - j - ö "

Jetzt formen wir in Zeitlupe das Wort „ n-ō-i-j-ö “. Hierbei unterstützen sich Zungenbewegung, Mundraumveränderung und auch die Lippenbewegungen. Das „ j “ hat in unserer Sprache eine Sonderstellung, denn es wird gar nicht gesprochen. Es handelt sich vielmehr um eine Spielanweisung, die besagt, dass wir über ein „i“ in den immer auf ein „ j “ folgenden Vokal gehen sollen. Für uns als angehende Obertonsänger und –sängerinnen eine ideale Wendung, wenn wir nur langsam genug sind. Gerade bei diesem Übergang sammeln sich viele Obertöne.
Diese Übung erweitern wir noch, indem wir ein „o - u“ an das „ n - o - i - j - ö “ anhängen. Auf diese Weise haben wir eine organische Bewegung von unserem hellsten Vokal, dem „ i “ zu unserem dunkelsten Vokal, dem „u “.


Der Karpfen

Wir singen ein " ng “, wie wir es in Worten wie „ Klang “,  „Gong “ oder „ jung “ finden. Beim „ ng “ schließen wir den Rachen, während der Mund selbst geöffnet ist. Der Klang ist rein nasal, was wir leicht feststellen können, wenn wir uns beim Singen einmal die Nase zuhalten. Nun bewegen wir die Lippen und formen äußerst langsam Vokale vom „ o “ bis zum „ a “. Wichtig ist dabei, dass der Rachen geschlossen bleibt, also kein offener Vokal erklingt. Jetzt scheinen einige wenige Obertöne auf unseren Lippen zu schweben. Bewegen wir die Lippen, so springen sie von einer Stufe auf die andere. Auch wenn diese Obertöne sehr leise sind, so können wir sie gut hören, da sie mehr mit dem Körper verbunden sind und unserer Hörgewohnheit eher entsprechen, hören wir uns doch  "normalerweise “ aus einer Mischung aus Luft- und Körperschall. Dieser fällt beim Obertonsingen weitgehend weg und macht uns den Zugang zum Hören unserer Obertöne nicht so einfach. Das Ohr stellt sich aber im Laufe des Übens immer besser auf diese neue Schwingungsform ein. Nun können wir gleich eine weitere Übung anschließen.


 Die Klangschale

Jetzt öffnen wir den Rachen impulsartig immer wieder, so dass ein „ gong-gong-gong “ entsteht  Wir singen also das Wort „ Gong “ immer wieder rasch hintereinander auf einem Grundton, als hätten wir eine kleine Klangschale im Rachen, die wir durch das plötzliche Öffnen des Rachens immer wieder mit einem kleinen unsichtbaren Schlegel anschlagen. Weiter geht der Weg zum „ gong-gung-gang “. Verschiedene Helligkeitsstufen des Klanges sind mit dem Hervorleuchten unterschiedlich hoher Obertöne verbunden. Jetzt gehen wir weiter durch alle verschiedenen Vokale, wobei wir für jeden neuen Vokal unseren kleinen Schlegel einsetzen. Es könnte also durchaus ein Wortgebilde wie "gong-gung-gang-göng-ging-gang-gong “ entstehen. Besonders hier gilt wie für alle anderen Übungen auch, dass eine deutliche Artikulation dem Klang hilft, in seiner ganzen Klarheit und lebendigen Klangfülle zu erscheinen. Wie für alle Übungen gilt auch hier, dass wir uns gegenwärtigen, dass Singen eine Transformation unseres Atem zu Klang darstellt und wir diesen Atem fließen lassen.


Das " böh " wie beim Englischen " bird "


Jetzt berühren die Zungenränder die oberen Backenzähne und die Zungenspitze formt eine Tülle. Die Lippen sind relativ fest zu einem „ ö “ geformt. Verkleinert die Zunge nun den Raum zwischen Gaumen und Zungenteller, so werden die Obertöne höher und der Klang wandert ins „i“, lässt sie dagegen den Raum größer werden, entstehen tiefere Obertöne. Wir können fühlen, wie die Obertöne zwischen Zunge und Gaumen gebildet und verändert werden, je nach Größe des Raumes und Drucks der Zunge.


Das " L "

Mit der L-Technik können die Obertöne noch weiter optimiert werden und es lassen sich sehr saubere Obertöne erzeugen. Bei der "L-Technik" befindet sich die Zungenspitze an der Gaumenkante ca. 1,5 cm über der Zahnkante der oberen Schneidezähne. Dort liegt sie aber nicht nur sanft an, sondern übt einen ziemlichen Druck aus. Die Zungenränder werden breit gemacht und liegen an den Innenseiten der oberen Backenzähne an. Wichtig ist dabei, dass die Zunge nicht nach hinten eingerollt wird, sondern flach am Gaumen anliegt. Die Grundstimme wird kräftig gesungen. Beim Singen entweicht die Luft über die hinteren Zungenränder, aber nicht über die Zungenspitze. Je weniger Luft über die Nase geführt wird, um so klarer werden die Obertöne. Der Ton soll einen möglichst großen „i“-Anteil haben und während der ganzen Übung behalten. Hilfreich ist auch die Vorstellung, den Klang über die Schädeldecke hinaus zu singen. Die Variation der Obertöne kann auf zwei Arten geschehen: bei der ersten Übung bleibt die Zungenspitze in ihrer L - Position und wird nicht bewegt, während die Lippen sich wie bei dem „Karpfen“ allmählich zu einer Schnute formen. Durch die Vergrößerung des Mundraumes und Nachlassen der Spannung erklingt eine abfallende Obertonlinie. Bei der zweiten Übung wandert die Zunge langsam nach hinten zum weichen Gaumen. Dadurch vergrößert sich ebenfalls der Mundraum und die Obertöne steigen wiederum von oben nach unten. Machen wir die gegengesetzten Bewegungen, so steigen die Obertöne von unten nach oben.


Das " hell "


Nun rollt sich die Zunge ein wie eine Welle ein und übt mit ihrer Spitze einen guten Druck auf den harten Gaumen aus. Der Unterkiefer ist etwas nach vorn geschoben und durch die Veränderung des Zungendrucks und der Berührungsfläche von Zunge und Gaumen entstehen sehr starke, flötenähnliche Obertöne. Der Klang beginnt mit einem kräftigen Impuls, der noch verstärkt werden kann, wenn wir zu Beginn den Bauch ruckartig mit Muskelkraft einziehen. Werden wir dann weiter mit der Übung vertraut, übernimmt das Zwerchfell diesen Impuls. Zu Beginn sollte man diese Übung allerdings nicht zu lange machen, damit sich das Kiefergelenk nicht verkrampft .


Das " Me - You "

Im englischen „ Me “ steigen die Obertöne auf und beim „ You “ gleiten sie wie auf einem Regenbogen allmählich herab. Beim „ Me “ hilft die Vorstellung eines kleinen Lächelns dem Klang, beim Weg des „ You “ wird der Mund immer spitzer. Wir stellen uns vor, dass wir den Klang aus dem Mundraum nach vorne bis zur vordersten Stelle des sich spitzenden Mundes herausschieben. Wenn wir das    „ u “ von „You “ erreicht haben, ist der Mund zu einer Tülle geformt. Im Verlauf dieses Klanges neigen wir das Kinn allmählich in Richtung Brustbein. Das entspannt die Nackenwirbelsäule, füllt sie auf angenehme Weise mit Schwingung und entlastet den Stimmapparat.


Übungen mit den sog. Klingern

Summen

Leicht schwebend liegen die Lippen übereinander. Die Mundhöhle ist mit Klang ausgefüllt, der Klang selbst strömt durch die Nase aus. Das Kinn neigt sich in Richtung Brustbein. Wir beginnen nun mit leichten Kaubewegungen, so als würden wir den Wohlgeschmack unserer Lieblingsspeise im gesamten Mundraum genießerisch verteilen. Dabei hilft die Zunge, die sich durch den Mundraum bewegt. Mal berührt sie den harten Gaumen, mal schiebt sie sich von vorne nach hinten, mal wandert sie mit ihrer ganzen Fläche am Gaumen entlang. Sie verändert den Druck und die Auflagefläche am harten Gaumen und denkt sich immer neue Bewegungen aus, um den Mundraum, der jetzt unser Resonanzkörper ist, zu verändern.
Wir hören klangimmanente Obertöne, fühlen unsere Resonanzräume im Kopf und lassen die Vibrationen über die Wirbelsäule bis in die Fußsohlen wandern. So werden wir zum Raum für Schwingung, Weite, Pulsation und Lebendigkeit.


Summen und Körperschall

Mit den Zeigefingern verschließen wir nun unsere beiden Ohren und beginnen wieder, zu summen. Unsere Stimme hören wir jetzt nur über die Knochenbahnen und den Körperschall. Während wir summen, tasten wir mit der Zunge den Gaumen ab und beginnen, den Klang kauend im Mundraum hin- und herzuschieben. Dabei stellen sich helle und allmählich sich verändernde Klangspektren ein.


Das " nnhhnn "

Beim „nnhhnn“ berührt die Zungenspitze den vorderen Teil unseres Gaumens bis an die Schneidezähne. Der Mund ist dabei leicht geöffnet, während der Klang selbst rein nasal ist. Versuchen Sie mal, sich dabei die Nase zuzuhalten... Wenn Sie erkältet sind, sagen die Mitmenschen gerne: “Du sprichst ja so durch die Nase. Bist Du erkältet?“ Wir sprechen aber gerade nicht durch die Nase, wenn wir erkältet sind, sondern müssen auf bestimmte Klangräume verzichten.
Wir lassen also das „nnhhnn“ weiter durch die Nase strömen und bringen den Sitz des Klanges im Mundraum möglichst weit nach vorne. Bei manchen kitzelt es dabei an Zungenspitze und hartem Gaumen. Die Schädeldecke vibriert und die Berührung des Nasenbeins mit den Fingern hilft, den Sitz des Klanges noch weiter nach vorn zu bringen.



 Es tut gut, beim Singen der Obertöne folgende Grundsätze zu beherzigen:




Übungen für Fortgeschrittene

Voraussetzung für diese Übungen ist das gute Hören der eigenen Obertöne. Diese Übungen sind Vorschläge für Sängerinnen und Sänger, die an kniffligen Aufgaben interessiert sind und auch Zeit haben für das Üben. Um Freude am Singen und Hören der eigenen Obertöne zu haben, genügt die Beschäftigung mit den eben geschilderten Grundübungen. Da manche meiner Schüler aber auch an richtig schweren Aufgaben Freude haben, seien hier einige beschrieben. Es gibt natürlich noch viel mehr als die hier beschriebenen, wer allerdings die letzten Übungen dieser Reihe singen kann, dem fallen dann von alleine viele andere Möglichkeiten ein.



mittelschwer 


schwer


sehr schwer